·– Vision, Charakter und Qualität –·
Die Rovero-Siedlung mit der charakteristischen kleinen Kapelle aus Ziegelsteinen liegt still unter der brennend heissen Augustsonne. Nichts deutet darauf hin, dass hier in wenigen Tagen die Weinlese beginnen wird. Enrico, Önologe der jüngsten Rovero-Generation, empfängt uns herzlich. Er nimmt sich die Zeit, uns in die Rebberge zu führen und uns die verschiedenen Stationen zu zeigen, welche der Rebensaft durchläuft, bis er ein spritziger Brachetto, ein kräftiger Barbera Vigneto Gustin oder ein vollendeter Rouvé ist.

Morgen wird Enrico entscheiden, wann genau mit der Ernte begonnen werden soll, piano piano, sagt er heute, aber morgen früh wird er schon etwas unter Druck sein, weil die Wetterprognose noch mehr Sonne und steigende Temperaturen verheisst. Die Weinlese ist immer eine Herausforderung, die man gut planen muss. Wo im Rebberg wird begonnen, mit wie vielen Lesern, wann ist der ideale Zeitpunkt für den ersten Durchgang? In diesem Jahr ist die Aufgabe noch etwas kniffliger als sonst. Das Wetter war extrem,viel Schnee im Winter, viel Regen im Frühjahr, was die Beeren gross und prall gefüllt werden liess und die Reben zur Produktion immer neuer Triebe anregte. Und dann die grosse Hitze im August, welche die der Sonne zugewandten Trauben sehr schnell reifen liess, ja, nun gar zu verbrennen droht, während die im Laub versteckten Beeren noch weit von der Reife entfernt sind. Wie sich das auf die Qualität des Weins auswirken wird, kann man nicht im Voraus wissen.

Der Zeitpunkt der Lese ist einer der vielen Faktoren, der die spätere Qualität des Weins und seinen Charakter prägen. Ein weiterer ist die Lage innerhalb des Rebberges: In den unteren Reihen werden weisse oder eher anspruchslose blaue Sorten angepflanzt, italienischer Riesling oder Merlot zum Beispiel, der immenses Potential hat, wenn er nicht zu schnell reift. Hier scheint die Sonne weniger lang; der Temperaturunterschied zu den oberen Partien kann bis zu vier Grad betragen. Die Barbera-Traube bekommt den Spitzenplatz im Rebberg. Eine anspruchsvollere Traube, die bis zu drei Wochen später reif ist als der Merlot, dafür können aus ihr hier Weine gemacht werden, die zu den ganz grossen gehören, gerbstoffarm und alkoholreich sind und viel Vergnügen beim Genuss bereiten. Wenn nach der Ernte alles optimal läuft.

Denn nachdem Boden, Lage und Wetter die Traube geprägt haben, folgt jene Phase, in der der Weinmacher durch verschiedene Regu- lierungen die Richtung des Weins bestimmen kann. « Am Anfang steht immer eine Vision, » erklärt Enrico Rovero versonnen. « Wo will ich mit einem Wein hin? Wie soll er werden? Danach gibt es unzählige Wege, um das Ziel zu erreichen. Ob ich den für mich rich- tigen finde, ist immer eine spannende Herausforderung. » Da nach der Gärung in der Phase des Reifens unzählige Mikroorganismen den Prozess beeinflussen, welche je nach Temperatur oder Druck in den jeweiligen Zeitabschnitten unterschiedlich wirken und durch andere wiederum unvorhersehbar beeinflusst werden, sind die Möglichkeiten der Entwicklung unbeschränkt. « Das Ziel ist das Wichtigste,» hakt Enrico nach. «Und da wir als biologische Wein- macher keinerlei Zusätze beigeben, welche einen Wein besser scheinen lassen, als er ist, sind wir mit unserer grossen Erfahrung natürlich im Vorteil. Aber noch so viel Erfahrung kann nicht die Gabe der Intuition und das nötige Glück ersetzen. Das Weinmachen ist nicht eine Wissenschaft, sondern eher eine Unwissenschaft. Es gibt keine absoluten Grössen, an die man sich halten kann.Es braucht viel Gefühl. Und manchmal etwas Erfindergeist. Erst wenn der Wein im Barrique, im Holzfass liegt und seine Jahre «absitzt», bis er zu einem grossen Wein herangereift ist, können wir entspannen. Bis dahin muss nur noch regelmässig kontrolliert werden, ob nicht ein unvorhersehbares Ereignis eingetreten ist, auf welches man reagieren müsste.»

·– Tradition des Hauses: Far bene! –·
Das Weingut des Rovero-Clan liegt ein paar Kilometer südlich von Asti. In dem kleinen, idyllischen Seitental leben und wirkendie Familien der drei Brüder Claudio, Michelino und Franco; die beiden ersteren sind in erster Linie zuständig für die Weinberge, Franco hat die Grappa-Brennerei unter sich. Enrico, Sohn von Michelino, ist Weinmacher und Kommunikations-verantwortlicher. Die Ehefrauen betreuen den Agriturismo und sorgen fürs leibliche wohl der Gäste.

Bis in die Siebziger Jahre betrieb man einen Bauernhof – nach traditioneller Art ohne chemische Zusätze, aber noch nicht bewusst nach biologischen Kriterien. Die Maxime des «Far bene» – etwas gut zu machen – beseelte allerdings die Roveros schon immer. Gute Qualität, auch wenn es weniger wirtschaftlich ist. Ein Akt des Widerstandes gegen die allseits anerkannten Marktgesetze des immerwährenden Wachstums und der stetig steigen müssenden Rendite!

Als dann die Wunderwirkungen der chemischen Unkrautvertilger und Schädlingsbekämpfung gepriesen wurden, setzte man diese versuchsweise vorsichtig ein. Aber die Roveros reagierten mit Allergien – und nun entschied man sich bewusst für das Abenteuer Bio-Wein und -Grappa. Dies entsprach der ganzheitlichen Auffassung von Natur und Mensch, die hier schon immer gelebt wurde. Seither werden die erlaubten Hilfsstoffe wie Schwefel und Kupfer auf das absolut notwendige Minimum reduziert. Claudio, der Onkel von Enrico, sinniert, während die untergehende Sonne den Hof mit goldenem Licht erfüllt: «Ehrlich gesagt, einfach guten Bio-Wein oder Grappa zu machen, ist für mich nicht Motivation genug, um alle die zusätzliche Mühe und Arbeit auf uns zu nehmen, wenn wir nach den bestehenden Bio-Verordnungen produzieren. Mich interessiert das Wohl der Erde, dieses Bodens hier. Er soll durch unsere Arbeit lebendig bleiben. Und mich interessiert, wie es den Menschen weltweit geht. Wie könnte ich zufrieden sein, wenn nur ich und meine Nächsten von biologischen Lebensmitteln, feinem Bio-Wein und einer naturnahen Medizin profitieren könnten? Bio-Anbau heisst für uns, verbunden sein mit dem Ganzen. Nicht nur hier das Beste machen, sondern auch weiter denken und solidarisch sein.»

Das also ist der Grund, weshalb die Roveros einige Male mehr durch ihre Rebberge gehen und mehr Ranken und Trauben herausschneiden als konventionelle Weinbauern. Aus demselben Grund lüften sie die Erde und jäten sie das Unkraut in Handarbeit, immer wieder, verzichten auf gigantische Erträge und Umsätze. Und aus diesem Grund stehen die prächtigen Rosenstöcke jeweils am Ende einer Rebzeile: Sie werden als Erste von den Schädlingen befallen, so dass der Bauer gleich vorbeugend reagieren kann, ohne je die Giftspritze einsetzen zu müssen.

·– Aus Kunden werden Freunde –·
Dieser Grundhaltung entspringt auch die Philosophie, dass Kunden und Geschäftspartner Freunde sein sollen. Wer hierher kommt, lernt nicht nur eine traumhaft schöne Landschaft und köstlichen Wein oder Grappa kennen, sondern auch warme, herzliche Freundschaft, die unter jenen entsteht, die nicht nur den eigenen Vorteil, sondern das Wohl des Ganzen im Auge haben. Für ihre Besucher bieten die Roveros in einem alten Bauerngut grosszügige, selbstverständlich mit ausschliesslich natürlichen Baustoffen renovierte Gästezimmer an. Agriturismo nennt sich das. Michaela, Enricos Frau und Mutter von lebhaften Drillingen, nimmt sich in wunderbar persönlicher und doch freilassender Weise der Gäste an. Das feine Degustationsmenü am Abend darf man sich nicht entgehen lassen.
Aus der Küche kommen lauter Spezialitäten des Landes, begleitet von den passenden Weinen. Die Ehefrauen der Rovero-Brüder Claudio, Michelino und Franco stellen all die Köstlichkeiten in Handarbeither, während die Ehemänner die Gäste bedienen.

·– Berufung Weinmacher –·
Für Enrico gab es nie einen Zweifel: Auch er würde Weinbauer werden. Mit vierzehn besuchte er die unter Kennern berühmte Scuola viticoltura ed enologia in Alba, die ihn stark prägte. In einem Praktikum setzte er sich mit der Weinkultur Frankreichs auseinander.
Dies gab ihm den entscheidenden Input, Neues auszuprobieren – bis heute. Und dann kommt Enrico ins Schwärmen. «Wer an dieser Schule lernen darf, ist privilegiert!» Ihr Markenzeichen sind lauter vom Weinbau begeisterte und äusserst motivierte Mitschüler und Lehrende, beseelte Fachgespräche schon während der Schulzeit und lebenslängliche Freundschaften unter allen Schülern, die sie absolviert haben. «Man erkennt sich sofort, auch wenn dreissig Jah- re Altersunterschied bestehen; wer in Alba studierte, ist von einem « Virus der Brüderlichkeit » befallen . So empfinde ich auch meine Onkel nicht als zu einer älteren Generation gehörend: Wir sind alle wie Brüder, und wir trennen nicht zwischen Arbeit und Freizeit. Wir alle versuchen, unseren Weinberg ganz aus der Nähe zu kennen, seine Bedürfnisse, seine Stimmungen wahrzunehmen. Alles gehört zusammen, der Wein, die Natur, die Freundschaften mit Menschen, die Vernetzung …dies alles zusammen ergibt ein wunderbar kreatives Leben, wenn man sich einmal mit der Seele des Weins verbunden hat!»

Deshalb ist es ihm so wichtig, dass die Menschen sie hier desuchen kommen. Sie sollen selbst diese Verbundenheit erleben, die Natur sehen, in der «ihr» Wein entsteht. «Erst hier gehen ihnen die Augen auf. Wer Wein liebt, hat eine starke emotionale Seite. Und eine philosophische.Dies verbindet uns weltweit …» – Dass damit die Genusstrinker gemeint sind, versteht sich von selbst. Ja, Enrico wird beim Abendessen nicht mehr als ein paar Schlucke trinken. Aber er wird immer wieder das Glas an die Nase heben, um die Essenz des Weins zu erfassen, und wenn er einen Schluck genommen hat,wird er lange im Gaumen den Nachklang kosten.

·– Sensorik – eine individuelle Geschichte –·
Wie erkennt man einen guten Wein? Auch hier gilt: Es gibt keine exakten Regeln wie in der Mathematik. Oder bei Coca Cola. Niemand spricht über Coca Cola, denn es ist immer genau gleich. Nicht so der Wein. Ob man ihn gut findet oder nicht, ist weitgehend Ansichtssache. Und wieder: Emotion. Neugier. Das ergibt die Faszination, das Mysterium. Deshalb lieben es die Menschen auch, immer wieder über Wein zu sprechen. Sie lernen riechen, schmecken, geniessen. Jedenfalls jene, die sich bewusst dafür Zeit nehmen.
Aber noch ist Enrico mit seiner Definition eines grossen Weines nicht ganz zufrieden. Ein weiterer Punkt ist für ihn ein Faszino-sum: Die einherstellung ist eine geniale Art der Konservierung. Man fängt die Wärme der Sonne, den Charakter der Erde und die Emotionen der Weinbauern ein und kann sie in der Flasche in alle Welt transportieren. Die Qualität, der Charakter bleiben, ja, verbessern sich sogar im Laufe der Zeit! Wo sonst findet man dieses Phänomen? Aber man muss darüber reden.
Biologischen Wein zu produzieren reicht nicht aus für ein gutes Marketing. Man muss den Käufern sagen, was sie mit einer Flasche Wein oder Grappa von den Roveros erwerben. Und wie sie diese geniessen können: Dem Wein Luft geben, sich selber Zeit lassen, riechen, schmecken, sich entführen lassen.